"Hast du keine Angst, dass dein Kind so werden könnte wie du?"

Und warum rege ich mich jetzt so darüber auf?
Ich schreibe immer mal wieder Tweets, die die Absurdität mancher Fragen und Aussagen gegenüber Gehörlosen und Schwerhörigen aufzeigen sollen. Immer mal wieder kriege ich darauf Reaktionen, von Leuten, die genau das nicht einsehen wollen.
Aktuelles Beispiel ist eine Reply auf den Tweet oben: Ich solle nicht beleidigt sein von so einer "normalen" Frage. Entschuldigung, aber ich finde es nicht normal, wenn mich fremde Leute fragen, ob ich keine Angst habe, dass mein Kind so wie ich werden könne. Warum sollte ich davor Angst haben? Ich finde mich gut! Fragt man denn Schwarzhaarige, ob sie Angst hätten, dass ihr Kind auch schwarzhaarig werde? Eher nicht. Denn schwarzhaarig wird nicht als etwas Negatives gesehen. Und hier kommt der beleidigende Teil: Diese Frage stellt man nur, wenn man annimmt, dass gehörlos etwas Schlechtes ist. Fragt man, ob meine Gehörlosigkeit erblich bedingt ist, finde ich das ok. Hier gibt es keine negative Konnotation. Es wir auch nicht nach meinen Familienplänen gefragt. Nicht, dass es irgendwen etwas angehen würde, woher meine Gehörlosigkeit kommt und was meine Gene so machen. Aber in dieser Frage schwingt nichts Negatives mit. 
Die Replies auf den obigen Tweet wurden dann immer absurder: Ob ich nicht bereit sei, mein Handicap zu erklären und wie ich damit leben würde. Es sei meine Pflicht, Hörende aufzuklären. Klar, es sei für gehörlose Eltern nicht leicht, aber dafür gäbe es Unterstützung (mit den passenden Links). Zum Schluss bekam ich noch einen Link zugeschickt mit dem bissigen Kommentar, dass SO Aufklärung ginge. Jede einzelne Reply machte mich wütender. Normalerweise weise ich freundlich auf die betretenen Fettnäpfchen hin und kläre auch gerne über die Hintergründe auf. Aber es ist nicht mein Job und ich bin nicht 24/7 im Internet, um Leute in 140 Zeichen die Welt zu erklären. Aus diesem Grund gibt es diesen Blog.
Nun, zum Fettnäpfchen und der Stunde der Aufklärung:
Ich finde es ganz generell sehr indiskret, Frauen (und auch Männer) nach ihren Familienplänen zu fragen, wenn man nicht miteinander befreundet ist. Das wird zwar oft getan, aber mich hat das schon immer gestört. Ich diskutiere nicht mit Fremden über meinen Uterus. 
Viele Gehörlose sehen sich nicht nicht als Menschen mit einem Defizit, sondern als Angehörige einer Minderheitskultur - der Gebärdensprachkultur. In dieser Kultur leben übrigens auch ganz viele Hörende und Schwerhörige, beispielsweise Dolmetscher, hörende / schwerhörige Partner und Angehörige, hörende / schwerhörige Kinder, Linguisten, Audiopädagogen, Akustiker und anderweitig Interessierte und Menschen mit einer offenen Einstellung. Nichthörend sein ist also nicht einmal eine Voraussetzung. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht leichter zu nachzuvollziehen, dass eine Frage wie "Hast du keine Angst, dass dein Kind auch gehörlos sein könnte?" Sehr beleidigend ist. "Du bist Schweizerin. Hast du keine Angst, dass dein Kind auch schweizerisch werden könnte?" Indirekt wird einem gesagt, dass man für defekt, defizitär und minderwertig angesehen wird. Um noch deutlicher zu werden: Die hörende Herrenrasse über den wertlosen Gehörlosen. Dass Gehörlose in der Nazizeit (und in Skandinavien und in der Schweiz sogar noch bis in die 1970/80) zwangssterilisiert wurden, ist natürlich ebenfalls ein wunder Punkt. Klar wissen viele Hörende nichts von diesem Hintergrund, aber jeder einigermasse sensible Mensch sollte verstehen, dass es sehr bedenklich ist, einer Person eine solche so Frage zu stellen.
Einer Person ausserdem Hilfsangebote von Fachstellen um die Ohren zu hauen, ist ebenfalls einfach nur daneben. Ich bin eine unabhängige, selbständige Frau, die studiert ist, ihr eigenes Geld verdient und alleine einkaufen kann. Wenn ich Hilfe brauche bei der Erziehung meiner Kinder, dann liegt das daran, dass es kein Zuckerschlecken ist, Kinder aufzuziehen und nicht daran, dass ich zufälligerweise nichts höre. Im Gegenteil, ich sehe das sogar als Vorteil: Lärmstress werde ich kaum haben. 
PS: Gehörlosigkeit ist nur bei ca. 15% der Gehörlosen genetisch bedingt. In der Schweiz gibt etwa 10'000 gehörlose Menschen, in Deutschland 80'000. Das heisst, in der Schweiz gibt es gerade mal ungefähr 1500 Leute, die ihre Gehörlosigkeit geerbt haben.

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